Die Schrift, welche eine kritische Auffassung vom Ursprung des Baptisteriums und dessen nachfolgender
Baugeschichte inaugurieren sollte, erschien 1684 unter dem Titel Firenze Città nobilissima illustrata, versprach also den Ruhm der Stadt zu verkünden und stand damit ganz in der Florentiner Tradition, die den antiken Marstempel immer als einen ihrer Ruhmestitel geführt hatte. Dieses Vorurteil muß der Leser zunächst bestätigt sehen, wenn er das Kapitel zur Florentiner Taufkirche aufschlägt und die Überschrift liest: San
Giovanni, Prima Tempio di Marte, eine Bezeichnung, die der Autor auf jeder folgenden Doppelseite als Kopfzeile wiederholt, wodurch er sie augenscheinlich zum Motto seiner Ausführungen über die Florentiner Taufkirche macht.
Del Migliore beginnt seine Untersuchung mit einem Rekurs auf die Tradition, in der sich traditionell zwei
Auffassungen gegenüberstünden, die beide bereits paradigmatisch in den altehrwürdigen Chroniken des Giovanni Villani und des Ricordano Malespini niedergelegt seien: die Auffassung einer heidnisch-antiken und die einer christlichen
Entstehung der Florentiner Taufkirche. (1)
(1) „Due sono l’opinioni gagliarde dell’Edificazione di questo Tempio, fondate sopra alle
relazioni delle due oggi celebri Cronache del Villani, e di Ricordano Malespini.“ (Del Migliore 1684, S. 82.)
Während Del Migliore zunächst die unglaubliche Theorie des Ricordano Malespini von einer Weihe der Kirche zur
Zeit von Christi Kreuzestod kommentarlos wiedergibt (2) - es kommt Del Migliore hierbei nur auf das Zeugnis einer christlichen Entstehung der Taufkirche an -, geht er auf die Ausführungen Villanis genauer ein.
Dieser kann sich nach Del Migliore zu Recht auf die Autorität Dantes stützen, wenn er das Baptisterium zum
antiken Marstempel erkläre. Villani könne ferner Dante auch als Zeuge für die Geschichte von der Marsstatue und deren Überführung an die Arnobrücke dienen. (3)
(3) Del Migliore (op.cit., S. 83) zitiert hierbei drei Verse aus Dante (Inferno
13, 145-147): „Dante (...) parlando della Statua di esso Marte che stava già nel mezzo del Tempio, messa dipoi dal Ponte vecchio: Sempre con
l’Arte sua la farà trista, e se non fosse, che’n sul passo d’Arno, riman’ ancor di lui alcuna vista.“
Doch verwirft Del Migliore - soweit ich sehe, zum ersten Mal - den Anachronismus einer gleichzeitigen Verdrängung
der Marsstatue von ihrem angestammten Platz und der Wiedererrichtung dieser Statue an der Arnobrücke. (4)
Was die Rekonstruktion dieser Marsstatue als Reiterstandbild anlangt, so folgt Del Migliore der Kritik Borghinis
und weist auf den archäologischen Befund römischer Münzen hin, auf denen der heidnische Kriegsgott niemals als Reiter dargestellt worden sei. (5)
Bei der Besprechung der Marstempelthese wird Del Migliore dann zum Kontrahenten desselben Borghini, denn er führt die Diskussion mit Argumenten, welche einhundert Jahre zuvor Borghinis Gegner Girolamo Mei vertreten hatte. Diese Argumente gehen nach zwei Richtungen: die einen betreffen die Gestalt des Bauwerks, die anderen beziehen ihre Validität aus den geschichtlichen Voraussetzungen, und die Verknüpfung beider Argumentstränge führt Del Migliore schließlich zu einer hypothetischen Datierung des Baptisteriums.
Wie schon bei Girolamo Mei sind die am Baptisterium verbauten Spolien ein Hauptargument gegen eine Errichtung in
antiker Zeit. Denn diese Spolien setzen die Plünderung und nicht die Erhaltung antiker Bauwerke voraus, eine Tatsache, die durch die unterschiedliche Herkunft dieser Bruchstücke noch unterstrichen wird und sich im Wechsel
korinthischer und kompositer Kapitelle im Erdgeschoß des Baptisteriums ebenso zeigt wie etwa an der kannelierten Säule im Innenraum neben dem Ostportal, welche unvermittelt neben anderen, glatten Säulen steht.
Ferner weist Del Migliore auf eine verkehrt eingemauerte Marmorplatte im Galeriegeschoß des Baptisteriums hin,
welche die Namen römischer Imperatoren aufweist, deren letzter – Nerva – 160 Jahre nach Augustus gelebt habe und - wie Del Migliore andeutet - einen terminus post für die Errichtung des Florentiner Baptisteriums bietet.
(6)
(6) „Vn marmo adatto ad vn di que’ Terrazzini per parapetto (…), si conosce chiaro vn
frammento stato gia in opera altroue, perché murato a rouescio, alcune lettere che sono in esso dalla parte interiore, di carattere antico Romano, tornan col capo, all’ingiù, e fanno menzione di Lucio Vero, Fratello di Marc’
Antonio, e di Traiano, e Nerua, che visse 160. Anni doppo ad Ottauiano;” (op.cit., S. 84 f.)
Diese Beobachtungen, die den nicht-antiken Charakter des Baptisteriums belegen können, ergänzt Del Migliore durch
das geschichtliche Argument, daß die Erhaltung antiker Monumente durch christliche Kaiser - Del Migliore nennt hier Honorius und Theodosius - verhindert worden sei, welche die Zerstörung heidnischer Tempel befohlen hätten. Indem Del
Migliore diese Zerstörung mit dem Bau von San Giovanni in Zusammenhang bringt, deutet er die Möglichkeit an, daß die Florentiner Taufkirche eben unter diesen Kaisern errichtet worden sein könnte, und zwar unter Verwendung von
Spolien, die von solchen zerstörten heidnischen Tempeln stammten. (7)
(7) „(...) fatto di Spoglie de’ predetti Tempj abbattuti, concedute (...)
dall’ Imperator Onorio a Cristiani per ornar le Chiese loro; “ (op.cit., S.85)
In seinen abschließenden Bemerkungen zur Ursprungsgeschichte des Baptisteriums nähert sich Del Migliore dann doch
noch der Tradition der Marstempelthese. Er leiht der Fama Gehör (darem finalmente luogo alla fama), die besagt, daß der Bau von San Giovanni tatsächlich der Tempel des Mars gewesen sei (esser questo veramente
il Tempio di Marte). (8)
Unter Berufung auf Leonardo Bruni und Polizian verweist er auf die römische Deszendenz der Stadt mit ihren
zahlreichen baulichen Relikten aus jener heidnischen Frühzeit, und datiert in kaum nachvollziehbarer Weise, jedenfalls in völligem Widerspruch zu seinen vorangehenden Überlegungen, die Neuweihe dieses heidnischen Tempels (fondato
sotto il patrocinio di Marte ... dedicato a S.Giovan Batista) in das dritte Jahr der Herrschaft Konstantins des Großen und gleichzeitig das fünfte des Pontifikats Silvesters I. (9)
Damit führt Del Migliore seine eigene Kritik an der Marstempelthese, die er unter dem Titel una opinione vorgetragen hat, ad absurdum und liefert im nachhinein die Erklärung für die Überschrift, die als Motto seinen ganzen Ausführungen zum Baptisterium voransteht: San
Giovanni - Prima Tempio di Marte. (10)
(10) Es müßte einer genauen philologischen Untersuchung vorbehalten bleiben – die nur ein
italienischer Gelehrter zu leisten imstande ist -, ob Del Migliore die abrupte Verbeugung vor der Marstempelthese, in der man die quasi-offizielle Ansicht des mediceischen Florenz sehen kann, tatsächlich als seine eigene
Überzeugung formuliert, oder ob nicht am Ende ein Vorbehalt gegen die Marstempelthese zwischen den Zeilen erkennbar bleibt.
Del Migliore wurde denn auch in späteren Jahrhunderten völlig unterschiedlich rezipiert und vor allem im 20.
Jahrhundert meist als Vertreter einer frühchristlichen Entstehung des Baptisteriums in Anspruch genommen, während andere Autoren sich an die letzten affirmativen Äußerungen Del Migliores zur Marstempelthese hielten und diesen geradezu zum Repräsentanten einer überholten Meinung des 17. Jahrhunderts stempelten.
(11)
(11) In diesem Sinne urteilt Cianfogni (1804, S. 51): „Il Migliore (…) voglia
questa Chiesa l’antico tempio di Marte, secondo l’errore ne’ suoi tempi comune (…).”
Ähnlich sieht Befani (1884, S. 112) Del Migliore als Vertreter
der Marstempelthese in der Tradition Borghinis.
Die weitaus meisten Baptisteriums-Forscher jedoch reihen Del
Migliore trotz seiner späten Erklärung zugunsten der Marstempelthese unter die Kritiker dieser Auffassung ein.
So Richa (1757, S. VI), der die Argumente Del Migliores gegen
eine antik-heidnische Entstehung der Florentiner Taufkirche ausführlich referiert und hierbei das schon von Girolamo Mei vorgebrachte Argument vom Typus des Oktogons als einer verbreiteten Form der christlichen Taufkirche ebenso
erwähnt wie das Spolienargument (welches gleichfalls auf Mei zurückgeht) (vgl. op.cit., S. VII).
Auch Mancini (1909, S. 186 f.) referiert Del Migliores Spolienargument als Beweis einer nicht-antiken Entstehung des Bauwerks.
Paatz (1941, II, S. 212, Anm. 3) sieht in Del Migliore den
Hauptvertreter der These einer Entstehung des Baptisteriums im 5. Jahrhundert in Anlehnung an S.Giovanni in Laterano und andere christliche Taufkirchen.
Busignani läßt Del Migliore die Position einer christlichen
Entstehung des Baptisteriums in der Zeit ‘nicht vor’ Konstantin vertreten und behauptet dabei, Del Migliore stütze sich bei dieser Auffassung auf Ricordano Malespini (dessen These einer Entstehung der Taufkirche z.Zt. von Christi
Kreuzestod Del Migliore lediglich anführt, um sie im weiteren Verlauf seiner Argumentation zu verwerfen): „Leopoldo del Migliore (1684) abbraccia risolutamente la tesi della fondazione cristiana, non anteriore quindi al tempo di Costantino, cercandone la conferma nelle parole di Ricordano Malispini (…).“ (Busignani 1988, S. 9; Herv., G.S.)
Bei Morolli vertritt Del Migliore einen ambivalenten Standpunkt,
der angeblich zwischen einer frühchristlichen und langobardischen Entstehung des Baptisteriums schwankt (während Del Migliore tatsächlich die Alternative einer antik-heidnischen und christlichen Entstehung diskutiert):
„It is surprising how many distinguished critics support the early-Christian thesis. Already in the baroque period, Leopoldo Del Migliore (...) wavered between the alternative of the founding of the Baptistery by
early-Christians or Lombards.“ (Morolli 1994, S. 35.).
Rupp (1912, S. 23.) sieht in Del Migliore überhaupt den ersten Kritiker der Marstempelthese und
ignoriert damit die über einhundert Jahre früher veröffentlichte Kritik Girolamo Meis von 1565/66, welche zur Apologie der Marstempelthese in Borghinis Discorsi geführt hatte.
Nur Prezzolini sieht die Eigentümlichkeit der Abhandlung Del
Migliores in der Diskussion der beiden konträren, zu seiner Zeit vorherrschenden Auffassungen einer antik-heidnischen und christlichen Entstehung der Florentiner Taufkirche: „(...) la memoria del come e del
quando questa fabbrica avesse avuto il suo incominciato, ha dato motivo a lunga indagine e malagevole studio, poichè sono stati costretti tutti coloro che hanno illustrata Firenze, ed in particolare il dottissimo Del Migliore, ad
andar dietro a sole congetture. Conferma egli, sulla relazione delle due cronache del Villani e di Ricordano Malispini, i due disparati sentimenti (...).” (Prezzolini 1855, S. 76 f.; Herv., G.S.)
Mit seiner vorangehenden wissenschaftlichen Kritik, auch wenn er sie nur als eine Meinung hinstellt, läßt sich
Del Migliores späte Verbeugung vor der Florentiner Tradition und der Marstempelthese in keinen vernünftigen Zusammenhang bringen.
Man muß annehmen, daß sich Del Migliore in seiner Stellungnahme, die er mit keinem Argument begründet und bei
der er sich nur auf Autoritäten (Bruni, Polizian) und die Fama beruft, von außerwissenschaftlichen Kriterien leiten ließ, die man wohl allgemein in dem geistig restriktiven Klima des mediceischen Florenz zu suchen hat, welches schon die wenig früher erschienene Publikation von Bocchi-Cinelli geprägt hatte.
(12)
(12) Die Art, wie Del Migliore diese abrupte Kehrtwendung vom Kritiker zum
Anhänger der Marstempelthese vollzieht, läßt den Gedanken an eine Selbstkontrolle aufkommen, zumal die entscheidenden Stichworte (denn von einer Argumentation kann hier nicht gesprochen werden) dem Hauptvertreter der Marstempelthese,
Vincenzio Borghini, entnommen sind: Borghini (1584, I, S. 145) führt als Autoritäten gleichfalls Bruni [Aretino] und Polizian ins Feld, und - was noch auffälliger ist - auch
Borghini spricht in diesem Zusammenhang von der Fama, während bei allen anderen Autoren - soweit ich sehe - diese keine Rolle spielt. Die Argumentation Del Migliores erweckt den Eindruck, als habe der Autor seine Auffassung in
einer Art Selbstzensur der des Protagonisten der offiziellen Florentiner Gründungsideologie angeglichen.
Doch selbst wenn die reaktionäre Auffassung der Marstempelthese (die ihre Naivität spätestens z.Zt. Vasaris, Borghinis und Girolamo Meis eingebüßt hatte) in Del Migliores Abhandlung das letzte Wort behält, so bleiben seine vorangehenden wissenschaftlichen Ausführungen davon doch unberührt, und wenn der Autor das Kapitel zur Ursprungsgeschichte des Baptisteriums mit einem nach rückwärts gewandten Bekenntnis zur Florentiner Tradition abschließt, eröffnet er gleichzeitig ein neues Kapitel durch Untersuchungen, welche der zukünftigen Forschung ein neues Terrain erschließen sollten.
Del Migliores spätere Geschichte des Baptisteriums, die er im Anschluß an die Ursprungsgeschichte des
Bauwerks abhandelt, begnügt sich nicht wie die früheren Geschichtsdarstellungen mit Hinweisen auf Dantes Divina Commedia, auf Boccaccio und Giovanni Villanis Chronik, welche Del Migliore ganz selbstverständlich auch anführt.
(13)
(13) Vgl. Del Migliore 1684, S. 88.
Vielmehr stützt sich dieser Teil seiner Abhandlung auf Archivmaterial, darunter die Notizen des antiquarisch
tätigen Carlo Strozzi, der Auszüge aus Kirchenarchiven und Zunftbüchern, wie die der Arte di Calimala, angefertigt hatte. (14)
(14) Die Bücher der Arte di Calimala sind für die Baptisteriumsforschung deswegen von besonderem Interesse, weil diese Zunft spätestens seit 1157 die Bauverwaltung von San Giovanni innehatte. (Vgl. Paatz II, 1941, S. 174 u. S. 224, n.19)
Hierbei teilt Del Migliore auch zwei Daten zu San Giovanni mit, die in der späteren Erforschung der Baugeschichte
des Baptisteriums eine wichtige Rolle spielen sollten: zum einen die Notiz Strozzis von einer Weihe der Kirche durch Papst Nikolaus II., den vormaligen Bischof von Florenz, im Jahre 1061, (15) zum anderen die
Nachricht von der Übertragung des Taufbeckens im Jahre 1128 von der Santa-Reparata-Kirche, dem Vorgängerbau des späteren Florentiner Doms, nach San Giovanni, woraus Del Migliore eine Umweihe San Giovannis von der Kathedral- in die
Pfarrkirche der Stadt zu dieser Zeit ableitet. (16)
(15) „(...) per alcune centinaria d Anni, la Festa della Sacra, la vi s’è ricominciata a
celebrare ne’ 6. di Nouembre; di che se ne deue dar lode al Sen. Carlo Strozzi, che fra le Scritture del Monast. di S. Felicita ve ne trouasse vna, che mostraua esserui stata fatta tal funzione, per mano d’vn Papa, il qual fù
Niccolò II. (quelli, che era stato Vescouo di Firenze, sotto nome di Gherardo di Borgogna) nell’Anno secondo del suo Pontificato, che cade nel 1061.” (op.cit., S. 111.)
- (16) Nach Del Migliore verliert San Giovanni mit der Überführung des Taufbeckens im Jahr 1128 den
Status der Domkirche (Duomo, Cattedra) und wird zur Pfarrkirche (Pieve) von Florenz:
„Come prima Chiesa adunque fù Duomo, la Cattedra, è il Seggio de’ Vescovi; del qual Titolo, e Dignità privata,
che la ne fù dipoi, diuenne Pieue, trasferitaui la Fonte del Battesimo da S. Reparata circa all’Anno 1128.“ (op.cit., S. 87.)
Schließlich wird das Domkapitelarchiv von Del Migliore als eine weitere wichtige Quelle für die Geschichte von
San Giovanni erfaßt, wobei er u.a. auf die frühe - später als Fälschung erkannte - Urkunde des Bischofs Speziosus aus dem Jahre 724 verweist (17)
(17) „(...) nelle Scritture pregiate del Capit. Fior. ... all'incontro l'essersi chiamato
S.Giovanni fin dell'Anno 724.” (op.cit., S. 86.)
Del Migliores Abhandlung, die im Titel die Erwartung einer Ruhmrede auf das Florentiner Baptisterium mit den Themen römische Deszendenz und Marstempel weckt, löst diese Erwartung am Ende nur in Form eines Lippenbekenntnisses ein. Tatsächlich ist sie - hundert Jahre nach den kritischen Bemerkungen Girolamo Meis - die erste wissenschaftliche Abhandlung zum Baptisterium, welche die Tradition kritisch bespricht, die Entstehung des Bauwerks in der Antike mit dem Argument der Spolien widerlegt, aus geschichtlichen Erwägungen heraus eine Datierung des Baus Ende des 4., Anfang des 5. Jahrhunderts (z.Zt. der Kaiser Theodosius und Honorius) als Möglichkeit in Betracht zieht und als eine der ersten Publikationen archivalische Quellen - hierbei auf den Unternehmungen von Zeitgenossen aufbauend - für die spätere Geschichte des Baptisteriums und dessen Rolle im kirchlichen Leben der Stadt auswertet.
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